Sonntag, November 12, 2006

ein Arbeitstag in der Ambulanz

Ich verbringe den heutigen Tag im Bett, weil mich ein Virusinfekt dazu zwingt. Viel Zeit, um gekaufte und geschenkte u.a. auch afrikanische Musik zu hören und die beeindruckendsten Momente niederzuschreiben.


Ambulanz

Seit zwei Wochen verbringe ich die Werktage in der Casualty, Ambulanz für alles. Man kann sie sich vorstellen als Viereck. An der einen Seite des Vierecks befindet sich der Eingang mit Vorraum, angrenzend dazu ist auf der linken Seite, die Ambulanz für die Patienten, die noch laufen können und auf der rechten Seite für die Patienten die auf einer Liege liegen. Zurück zum Viereck; auf der gegenüberliegenden Seite vom Eingang (wenn man also ganz durchgeht) befinden sich ein Operationssaal für kleine Eingriffe, ein Raum zum Nähen von Wunden und ein Intensivzimmer. Die Räume in der Mitte des Vierecks sind Büros oder Plaster Room, ein Gipsraum, zum Anlegen von Gipsen.

Die Ambulanz ist viel zu klein für so viele Patienten, doch die eigentlichen Räume wurden vor vielen Jahren wegen Renovierungsarbeiten, die wegen Korruption usw. bis heute nicht abgeschlossen sind, geschlossen. Das muss man sich mal vorstellen. Da quetschen sich hunderte Menschen (eigentlich alle Patienten, die ins Kenyatta National Hospital ambulant und stationär kommen, rund 2500 Betten) in diese zu klein geratenen Räume, weil irgendjemand das Geld für den Bau in die eigene Tasche gesteckt hat.

Vor der Ambulanz sitzen rund um die Uhr ca. 50 Leute, entweder Angehörige oder Patienten, die noch auf die Erstuntersuchung durch eine Krankenschwester warten, Blutdruck und Fieber messen und die Hauptbeschwerden dokumentieren. In einem Vorraum und in den angrenzenden Fluren liegen oft mehr als zehn Patienten auf Liegen, benommen oder gekrümmt vor Schmerz. Entlang der Flure stehen mit wartenden Patienten überfüllte Bänke. Sie alle warten und warten und man hat den Eindruck es werden nicht weniger und sie warten Ewigkeiten. So kann es auch schon einmal sein, dass schwerverletzte Patienten einen ganzen Tag in der Ambulanz verbringen. Sie warten erst auf die Erstuntersuchung durch den Arzt, der Untersuchungen anordnet, Röntgenbilder, CT oder Ultraschall. Nach der Anordnung müssen die Angehörigen erst einmal Geld auftreiben für die Untersuchungen und sich anschließend in die lange Schlange vor dem Kassierer einreihen. Wenn sie das Geld nicht auftreiben konnten, müssen sie Kredit beantragen, in einem anderen Bereich, warten in einer anderen Schlange. Den Kredit müssen sie innerhalb eines Monats zurückbezahlen. In besonderen Fällen werden die Kosten glaube ich auch vom Krankenhaus übernommen, aber da bin ich mir nicht sicher.

Sollten die Untersuchungen dann irgendwann mal bezahlt sein, geht es auf in die Schlange für die Untersuchungen. Ewigkeiten vergehen. Manchmal geht das CT oder der Drucker für die CT-Bilder auch nicht. Dann muss der Arzt mit einem Röntgenbild vom Kopf auskommen. Das CT ist ein Gerät aus 1994. Die Schichten werden noch einzeln angesteuert. Und es dauert ewig bis ein Patient untersucht ist. Ein neues Gerät, ein Spiral-CT soll seit einiger Zeit angeschafft werden, aber bisher ist es noch nicht „angekommen".

Nach den Untersuchungen kommt der Patient erneut zum Arzt. Meist ein anderer Arzt als bei der Erstuntersuchung. Es werden andere Untersuchungen angeordnet, der Patient wird in eine andere Schlange vor einer Spezialambulanz überwiesen oder direkt auf Station gebracht. Es ist nichts Ungewöhnliches, dass ein Patient um 8 Uhr morgens in der Ambulanz angekommen ist und um 17 Uhr auf Station kommt.

 

Ein Tag in der Ambulanz

Heute war ich auf der liegenden Seite und fünf Unfallopfer warteten auf den Arzt. Jeder war an einem anderen Unfall beteiligt. Schmerzen in der Schulter und an den Beinen. Einem anderen tat etwas im Bereich des rechten Rippenbogens weh… Im Intensivraum lag eine Patientin mit Meningitis, Gehirnhautentzündung, wohl zum zweiten Mal und im schlechten Zustand. Ich verliere den Überblick. Wo soll ich anfangen? Ich verbringe einige Zeit mit kenianischen Studenten im Gipsraum und helfe alle möglichen Frakturen zu versorgen.

Danach, auf den Gängen liegen Patienten mit Kopfverletzungen, dicken durchgebluteten Druckverbänden. So viele Schwerkranke nicht versorgt. Wo soll man anfangen? Warum kümmert sich niemand um die Patienten auf den Gängen? Ich untersuche sie grob und versuche instabile Patienten ausfindig zu machen. Angehörige von einem Patienten erkennen mich wieder und fragen mich um Rat. Soll die Wunde am Bauch noch genäht werden? Ich wusste bisher noch nichts von der Wunde. Ein Patient nach Verkehrsunfall, bei Aufnahme mit einer Glasgow Coma Scale von 10, benommen. Er war erst im Intensivzimmer und liegt inzwischen auf dem Gang ohne Überwachung. Vorhin hatte ich noch beim Gipsen seines Oberarmbruchs geholfen. Er hatte während des Gipsens erbrochen. Sein Zustand scheint sich etwas verbessert zu haben, aber immer noch benommen. Nach dem Finden der Akte konnte der Arzt gefragt werden, ob wir Studenten die Wunde im Stitching Room versorgen können. Wir sollten nun erst den Patienten in den Stitching Room bringen, damit sich der Arzt dort die Wunden ansehen kann. Gesagt, getan. Im Stitching Room angekommen, versuche ich den Kopfteil der Liege etwas anzuheben, da bei einer Kopfverletzung wie hier durch das einfache Anheben des Kopfes der Druck im Kopf gesenkt werden kann, was zu einer besseren Durchblutung des Gehirns führt.

Beim Aufdecken des Patienten fällt nicht nur der Verband am Bauch auf, sondern auch am rechten Oberschenkel. Eine verschmutzte klaffende Wunde mit großem Hautfetzen. In diesem Fall ist es eine Sache für den OP mit Vollnarkose.

Plötzlich ist der Patient wieder orientiert und fragt, was denn passiert sei. Er könne sich an nichts erinnern. Was das Anheben des Kopfes für Auswirkungen hat…

Ich begebe mich wieder auf die Suche nach Arbeit. Es gehen zwei Männer mit einer Bahre in die Nähe vom Intensivraum. Ich folge ihnen. Die Bahre ist mit einem riesigen Metalldeckel verschlossen. Hier im Krankenhaus werden die Toten damit transportiert. Sie sammeln eine weitere Leiche - in einem weißen Tuch eingewickelt - ein. Nach langer Überlegung fällt mir ein, es ist die Frau mit der Meningitis. Es bedrückt mich und diese Szene geht mir nicht aus dem Kopf. Hätte man noch etwas machen können? Ich gehe einen Flur entlang und sehe einen Menschen komplett zugedeckt mit einem weißen Tuch. Ist es auch für ihn zu spät. Ich decke sein Gesicht auf und Gott sei dank, er atmet noch.

Ein Arzt sieht mich und möchte mir einen Patienten zeigen. Es sei eine Blickdiagnose. Es ist ein Kaposi Sarkom am Fuß eines Mannes. Eine opportunistische Erkrankung bei AIDS. Im Nachbarraum liegt ein kleines Kind zugedeckt. Es wird aufgedeckt und es zeigt sich eine Verbrennung über den ganzen Oberkörper und am linken Oberarm. Mir wird alles zu viel. Ich gehe wieder auf den Flur - noch mehr Kranke auf ihren Liegen. Mir scheint sich alles zu drehen. Es ist zu viel. Ich verlasse die Casualty.

Mit zwei kenianischen Studenten mache ich mich noch auf die Suche nach einer Putzfrau aus meinem Hostel, die vor zwei Tagen morgens die Treppe heruntergefallen ist und anschließend schreiend vor meiner Tür lag. Sie hatte starke Schmerzen im rechten Oberschenkel und im Knie. Eine Studentin konnte sich an diese Frau aus meinem Hostel erinnern und begleitete uns auf eine Station im siebten Stock, der Stock für die orthopädischen Stationen. Sie sind alle überfüllt mit Patienten. Mehr Patienten als Betten. Viele von ihnen können sich eine Operation nicht leisten (80 € Vorauszahlung) und liegen auf Station und bekommen Schmerzmittel.

Wir finden die Putzfrau. Sie hat einen Streckverband wegen der Oberschenkelfraktur. Eine vernünftige Röntgenaufnahme vom Knie gibt es leider nicht. Ein Meniskus und ein Kreuzband scheinen verletzt. Sie wartet nach zwei Tagen immer noch auf die Operation des Bruchs. Da es heute Freitag ist, wird sie wohl frühestens Montag versorgt werden.

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