Dienstag, Oktober 10, 2006

5.10. Ein besonderer Tag wie jeder andere

Bus fahren
Nach kurzer erster Nacht im neuen und damit viertem Heim in Nairobi mache ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle. Fünf Minuten Fußmarsch, die breite Straße überqueren, geschafft. Einmal mehr der häufigsten Todesursache in Kenia entkommen.
An der Bushaltestelle warten viele Menschen. Die vorbeirollenden Matatulawinen verstopfen wie jeden Morgen die Straßen. Nach ein paar Minuten kommt der Grün-gelbe Bus „ Citi hoppa“ der Linie 7c (Kenyatta) an unserer Bushaltestelle an. Der Conducter öffnet die Tür und nur ein paar Leute steigen aus. Das Gedränge ist groß, denn der Bus ist stets voll besetzt und es können nur so viele wieder zusteigen wie ausgestiegen sind. Da es nur eine Tür gibt, ist das Gedränge noch größer. Irgendwie habe ich Glück und stand am richtigen Fleck an der Bushaltestelle und schaffe es in die Nähe des Eingangs auf hoffnungsvolle Position zu gelangen. Ich halte mich mit beiden Händen an den Einstiegsgriffen fest und versuche einzusteigen. Plötzlich bemerke ich einen Griff in meine heilige linke Hosentasche, wo sich sowohl mein Handy als auch mein Portemonnaie befindet. Ich fasse zur Tasche und bemerke noch das Herausziehen der Hand. Ist das Handy noch da? Meine VISA-Card? Alles da. Ich drehe mich um und frage den vermeintlichen Dieb: „What are you doing?“ Mit der Unsicherheit, ob es sich bei dieser um die richtige Person handelt, setze ich mit schützender Hand in der Tasche den Versuch, in den Bus zu gelangen, fort. Im Bus sprechen mit Leute, dass sie den Vorfall beobachtet haben und unterhielten sich auf Swahili mit anderen Leuten darüber. Hätte ich ihn zur Rede stellen sollen? Oder sollte ich heute sein Leben retten?
In Nairobi passiert es als „Tradition“ wohl des häufigeren mal, dass ein ertappter Dieb durch die auf ihn als Strafe einschlagenden Passanten umkommen oder zumindest mit schweren Verletzungen z.B. ins Kenyatta National Hospital kommen.
Einer ruft Dieb, Dieb, andere, die es auch gesehen haben stimmen mit ein, das geht soweit, dass sie auf ihn einschlagen.
Auf Station
Ohne Verluste und mit einer Erfahrung reicher komme ich im Krankenhaus auf Station an. Ich begrüße die Schwestern auf Swahili und immer wieder wundert sich jemand, dass ein Mzungu (Weißer) Swahili spricht. Es gilt die Lage zu checken. Nadine, eine andere PJlerin begleitet eine neue Intern auf Station und es hängt ein Emergency-OP-Plan an der Pinnwand. Gestern war unsere Station dran, Notfälle aufzunehmen. Patienten, die eine OP benötigen, aber wo noch über Nacht gewartet werden konnte, kommen heute dran. Ein Plan mit zwei Patienten. Ein akuter Blinddarm und eine Säuberung einer Schussverletzung. Das hört sich interessant an.
Ein Consultant von dieser Station hat uns eine Regel auferlegt und zwar, dass wir Patienten, bei denen wir im OP assistieren möchten, vorher befragen und untersuchen sollen. Eine mühselige, aber sinnvolle Regel. Nun mache ich mich auf die Suche nach den Patienten. Dafür ist es geschickt in einem Heft nachzuschlagen, in dem jeden Tag hineingeschrieben wird, in welchem Zimmer welche Patienten liegen. Die Patienten werden in einem Zimmer anfangend vom ersten Bett links durchgezählt. In einem Zimmer liegen von 8 bis zu 12 oder noch mehr Patienten. Betten gibt es in der Regel nur 8.
Erster Patient ist entdeckt. Room No. 5. Patienten, die am selben Tag noch in den OP kommen, bekommen ein Schild ans Bett gehängt mit der Aufschrift „no food, no drink“. Ein Hinweis mehr, um den Patienten zu finden. Der erste Patient hat starke Schmerzen seit gestern Mittag und beim Untersuchen zeigt sich etwas Abwehrspannung, aber meiner Meinung nach vor allem im Oberbauch, also nicht unbedingt ein Zeichen für eine Appendizitis. In einem Stapel aller Röntgenbilder von Station findet sich nach einiger Zeit auch eine Abdomen-Aufnahme dieses Patienten. Luft unter dem Zwerchfell. Ein Zeichen für ein perforiertes Hohlorgan im Bauch. Hier operiert man meist in dieser Situation, da man auf Untersuchungen anderer Art wie z.B. Ultraschall oder CT-Aufnahme trotz Notfall auch einmal Tage warten kann.
Der zweite Patient hat Glück gehabt. Er hat eine Schussverletzung mit Ein- und Austritt an der linken vorderen Brustwand. Die Lunge scheint nicht beteiligt zu sein.
Inzwischen steht noch eine Patientin auf der OP-Liste. Ausgegangen wird auch von einer Perforation in der Bauchhöhle. Kurz bevor ich mich auf in den OP mache, schau ich mir auch diese Patientin noch an. Auch sie hat seit gestern starke Schmerzen. Beim Berühren des Bauches zuckt sie kräftig zusammen. Nicht nur an einer Stelle, an allen. Für sie wird es höchste Eisenbahn, denke ich mir.
Suche nach den Akten. Wenn man Glück hat befindet sich die gesuchte Akte in dem Wagen, der vor dem Tresen der Station steht. Der Wagen hat zwei tiefe Fächer mit der Öffnung jeweils nach oben. In jedem liegt ein Stapel von blauen Heftern. Um eine Akte zu finden, muss man also mindestens die Akten der halben Station (30) durchsuchen. Geordnet sind die Akten nicht.
Auf in den OP
An den Anblick von herumfliegenden Masken und gebrauchter OP-Kleidung hat man sich bereits gewöhnt. Wie man sich allerdings nach dem Toilettengang ohne Toilettenpapier und Seife säubern soll, geschweige denn Desinfektionsmittel, bleibt mir ein Rätsel. Neuerdings ist es schwierig, Schuhe zu bekommen. Sonst greift man sich die nächst besten, die mit möglichst wenig Blut bespritzt sind. Leider haben die herumstehenden Löcher an der Sohle, an der Ferse oder oben drauf, so dass nicht unbedingt ein Schutz gegen herunterfallende Skalpelle gegeben ist.
Im gefragten Operationssaal tut sich leider noch nichts und ich vertreibe mir die Zeit in anderen Sälen und versuche mich auf der Anästhesieseite. Nach einiger Zeit trifft der erste Patient ein. Ich intubiere und wasche mich anschließend mit zwei Assistenzärzten. Es zeigt sich eine kleine Perforation des Duodenums. Inzwischen ist es zwei Uhr und der eine Assistenzarzt macht sich auf den Weg in die wöchentliche Fallpräsentation der chirurgischen Klinik. Ich versuche mich derweil an der Fasziennaht. Geplant war es die dritte Patientin vorzuziehen, nur für diese Operation würde der Sachverstand eines Oberarztes benötigt. Alle anderen Ärzte befanden sich allerdings in der Besprechung, so dass der Plan war, die Schusswunde schnell zu versorgen, um mit der dritten Patientin nach der Besprechung gleich weiterzumachen. Nach dem ersten Patienten sind wir allerdings erst einmal essen gegangen. Im hinteren OP-Bereich befindet sich ein Essensraum, wo mitsamt OP-Kleidung und hängender Maske kostenlos gespeist wird. Nach dem Essen war auch endlich der zweite Patient da, nur leider fehlte der Anästhesist. Eine halbe Stunde verging, so dass der Assistenzarzt, der bei der Besprechung war, bereits wieder anwesend war. 2 Assis, kein Anästhesist. Viel Zeit verging, so dass sich die Assistenzärzte beim Eintreffen des Anästhesisten woanders aufhielten. Der Anästhesist wollte aber nicht ohne den Assistenzarzt anfangen und verließ auch noch einmal für kurze Zeit den Raum. Der eine Assistenzarzt kam kurz in den Saal und sagte mir, dass er nach Hause müsse und etwas erledigen. Es war auch schon 16 Uhr. Der andere Assi sei on Call. Irgendwann traf der andere Assi ein und anschließend auch der Anästhesist, so dass die Operation beginnen konnte. Ein kleiner Eingriff, da nur der Schusskanal möglichst gründlich gereinigt werden musste.
Auf die dritte Patientin mit dem scheinbar dringendsten Handlungsbedarf wurde eine Stunde gewartet. Um sechs Uhr war die Patientin im OP-Saal. Ich hatte morgens noch die Sorge, dass die Tasse Tee, die sie um 9 Uhr aus versehen getrunken hat, irgendwelche Probleme bereiten könnte. (Ein Patient sollte 6 Stunden vor der OP nichts essen und trinken). Ich habe mich noch gewaschen und konnte dieselbe Diagnose von heute morgen ein zweites Mal sehen. Duodenumperforation. Nun operierte allerdings der Assi, der seit Anfang des Jahres Assi ist, alleine, ohne Oberarzt. Um halb sieben verabschiedete ich mich, da ich noch vor dem Eintreten der Dunkelheit zu Hause sein wollte, sonst hätte ich ein Taxi nehmen müssen. Im Dunkeln sollte ein reicher Weißer nicht durch Nairobbery spazieren. Habe es tatsächlich auch noch geschafft. Ein besonderer Tag wie jeder andere.

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